Kennst du das? Du gehst in einen Buchladen, willst eigentlich nichts kaufen und dann erwartet dich ein ganzer Tisch voller Mängelexemplare. Bei näherer Betrachtung weist kein einziges einen Mangel auf, bis auf diesen hässlichen Stempel am Rand des Buchblockes. Du schaust durch den Stapel und erwartest nicht viel, aber wer sagt zu einem günstigen Buch, das interessant klingt, schon nein?
Genauso ging es mir vor kurzem. Ich wollte nur mal schauen und schwupp – hielt ich ein Hardcover für gerade einmal fünf Euro in der Hand: das zweite Buch des Autoren Gavin Extence: Libellen im Kopf (Debütroman: Das unerhörte Leben des Alex Woods). Ich wunderte mich, warum ein Hardcover, das augenscheinlich keinen Kratzer hatte und auch nicht allzu alt war, als Mängelexemplar verkauft wurde. Der Klappentext hörte sich zwar interessant an, aber trotzdem war ich skeptisch. Ich muss gestehen, ich erwartete nicht viel von dem „Wühltisch-Buch“. Zum Glück hat es mich positiv überrascht.
Eckdaten:
Titel: Libellen im Kopf
Erschienen: 2016 (D) im Limes Verlag
Original: The Mirror World of Melody Black (2015, Hodder & Stoughton)
Autor: Gavin Extence
Seiten: 352
Libellen im Kopf – Schön, aber unberechenbar
Die Geschichte beginnt mit einem toten Nachbarn, der lediglich als Aufhänger dient (es klingt so wunderbar zweideutig, dass ich diesen Freudschen Verschreiber mal drin lasse). Denn es geht nicht darum, seinen Tod aufzuklären, sondern darum, wie Abby, die Protagonistin, mit dem Fund umgeht.
Abby, die als Ich-Erzählerin die Handlung beschreibt, lebt schon seit einer ganzen Weile zusammen mit ihrem Freund Beck in einer kleinen „Übergangswohnung“ in London. Sie haben nicht viel, müssen das Geld zusammenhalten, scheinen aber trotzdem glücklich zu sein. Zu Beginn der Geschichte beschleicht den Leser die vage Ahnung, dass mit Abby etwas nicht stimmt. Sie verhält sich nicht ganz normal, zumindest nicht so wie andere Menschen es nach dem Fund einer Leiche vermutlich tun würden. Nach und nach kommt heraus, dass Abby an einer bipolaren Störung leidet, sie ist manisch-depressiv.
Zunächst nimmt sie den Tot von Simon, ihres Nachbarn, einfach hin, scheint beinahe gefühlskalt zu sein, doch ganz so unberührt wie sie wirkt, ist sie nicht. Abby, die als Journalistin arbeitet, verarbeitet den Fund ihres toten Nachbarn in einem Artikel, der großen Anklang findet. Beflügelt vom Erfolg plant Abby weitere Artikel. Ihre Motivation steigert sich ins Unermessliche. Sie schläft kaum, arbeitet viel, hat gute Laune und ist voller Tatendrang. Und plötzlich geht alles schief, es gipfelt in einer Katastrophe.
Abby gleitet tief hinab in eine Depression. Nur langsam schafft sie es, wieder daraus aufzutauchen. Und am Ende lernt sie, dass es gar nicht schlimm ist, ein bisschen verrückt zu sein.
Protagonistin mit Ecken und Kanten
Da ich von dem Buch zuvor noch nichts gehört oder gelesen hatte, erwartete ich nicht viel. Nach den ersten Seiten dachte ich, vor mir läge ein Krimi oder Thriller, aber immer mehr wurde mir bewusst, dass sich das Buch mit einem ernsten psychologischen Thema beschäftigt. Ich war skeptisch. Kann ein Buch spannend sein, in dem es nur um das Leben und die Krankheit einer Person geht? Ja, das kann es. Denn dieses Leben ist alles andere als langweilig. Gavin Extence zeigt in seinem Buch Libellen im Kopf, dass eine gute Geschichte vor allem aus originellen und glaubwürdigen Charakteren besteht. Abby ist so facettenreich wie kaum ein anderer Charakter. Obwohl sie vor allem zu Beginn der Geschichte überhaupt nicht sympathisch ist, fieberte ich auf der Achterbahnfahrt durch ihr Leben mit. An ihrem tiefsten Punkt litt ich mit ihr und hoffte, dass sie es aus dem Sumpf der Depression herausschaffen würde. Obwohl es nur ein Einblick in ihr Leben ist, hat man nach diesem Buch eine gute Vorstellung davon, was es heißt, manisch-depressiv zu sein.
Libellen im Kopf war meine Überraschung des Monats, gerade weil ich keine sonderlich hohen Erwartungen an das Buch hatte. Es ist für alle lesenswert, die sich, ob aus persönlichen oder beruflichen Gründen, mit dem Thema „bipolare Störungen“ beschäftigen und einen Eindruck bekommen wollen, wie sich Betroffene fühlen.
Auch wenn die Geschichte ein mehr oder weniger positives Ende hat, sollte man sie vielleicht nicht lesen, wenn man selbst gerade mit einer Depression zu kämpfen hat.
An dieser Stelle möchte ich meinen virtuellen Hut vor dem Autor ziehen. Denn am Ende des Buches schreibt er ganz offen über seine eigenen Erfahrungen mit Manien und Depressionen. Er selbst hatte wie Abby damit zu kämpfen und erst nach und nach fand er Wege, damit umzugehen.
„Ist man schon verrückt, wenn man bloß solche Gedanken hat?“
„Nein. Ich glaube, man ist erst dann verrückt, wenn man nach diesen Gedanken handelt.“
(S.336-337)
Falls dich Bücher mit psychologischen Themen interessieren, dann wäre „Ich und die anderen“ von Matt Ruff vielleicht etwas für dich. Es bietet einen Einblick in das Leben einer multiplen Persönlichkeit.